Der Bildhauer Arnold Reinthaler graviert in Marmor, was andere beiläufig auf ein Post-it kritzeln – Er hebelt Zukunft und Vergangenheit in Echtzeit aus
Sauber, streng, schwarz und weiss mit ein paar grauen Marmorierungen: Arnold Reinthalers Platz in einem der Bundesateliers in der Wiener Wattgasse wirkt wie eine der slicken Galerien im ersten Bezirk. Selbst wenn der Gironcoli-Schüler und Bildhauer seinen Arbeitsraum, in dem er seit 2007 tätig ist, mehr zu Präsentationszwecken benutzt, behauptet er: „Wie mein eigener Generalsekretär, habe ich hier immer etwas zu tun…“ Er lacht. „Ich sage das, weil für mich Kunst erst dann beginnt, wenn ich mich mit der Zeit auseinandersetze, in der ich gerade lebe.“ – Mit der Jetztzeit also.
Arnold Reinthalers Kunstwerke bestehen in erster Linie aus Steinen mit so wohlklingenden Namen wie Orion, Verde Bahia oder Black Galaxy. Am Boden abgestellt oder an den Wänden seines Arbeitsraums lehnend, sind sie als endlose Prozesse konzipiert oder zumindest auf Zeiträume von mindestens 30 Jahren angelegt. „Meine Arbeiten“, so der Künstler, der in Linz und Wien studiert hat und dessen Werke häufig in einem medienkünstlerischen Umfeld gezeigt werden, „gewinnen erst mit der Masse an Qualität.“ Er bezieht sich dabei auf Kunstwerke, in denen er sein alltägliches Leben als Künstler – teils im Stundenrhythmus – kartografiert. „Das ist eine bewusste Gegenreaktion auf den permanenten Druck, dauernd etwas Neues machen zu müssen, immer bunt sein zu müssen – man kann es auch als Ästhetik der Langeweile bezeichnen.“
Dieser Habitus erklärt auch Reinthalers Faszination für das im zeitgenössischen Kunstbetrieb durchaus anachronistische Trägermedium Stein. „An die Steinplatten ist kulturelles Wissen gebunden. Wer sie sieht, denkt vielleicht sofort an Grabsteine oder assoziiert damit Konzepte wie Ewigkeit und Unendlichkeit. Es geht immer um eine Art metaphysische Idee von Gegenwart – eine, die immer ist und nie vergeht.“ Die buchstäbliche Schwere seines Materials konterkariert der Künstler mit sehr flüchtigen Gesten. digitally aged (2003) nennt er etwa die Spuren, die eine Quarzanzeige kurz nach dem Ausschalten am Display hinterlässt und graviert diese normalerweise durch Licht vermittelte und somit zeitgebundene Information in schwarzen Granit. Ähnlich humorvoll bearbeitet er auch sematische Sprachräume, die er als Binsenweisheiten wie komme gleich (2004) oder morgen ist alles gut (2006) mit einem Augenzwinkern formuliert. Der Witz daran ist, dass keiner der beiden Sprüche fertig gearbeitet wurde und damit im Entstehungsprozess stockt: Das morgen in morgen ist alles gut verschiebt sich immer auf den nächsten Tag, das gleich in komme gleich hingegen löst sich niemals ein.
Äußerst akkurat arbeitet Reinthaler bei der Installation within a second (2007), bei der er auf fünf exakt einen Meter langen weissen Marmorplatten wiederum exakt eine Sekunde in Stenografie wiedergibt: Neunzehn Uhr dreizehn und vierundzwanzig Sekunden steht da in Kurzschrift, bis die Sekunde vorbei ist und zur nächsten Platte überspringt. „Theoretisch gib es 86.400 (Anm.: 60 x 60 x 24) dieser einzelnen Kunstwerke, denn so viele Sekunden hat ein ganzer Tag“,erklärt der Künstler: „Um diese Arbeit fertig zu produzieren, müsste ich bis an mein Lebensende täglich bis zu zehn Platten gravieren. Für’s erste haben fünf Sekunden genügt.“ Hypothetisches Ziel von within a second ist, alle steinernen Repräsentationen von Zeit in einem überdimensionalen Kreis zu installieren. BetrachterInnen könnten dann einen ganzen Tag – Schritt für Schritt und Sekunde für Sekunde – abschreiten und wären damit lebendige und in Echtzeit agierende Uhrzeiger. Neben der Arbeit an Substanzen, seien diese auch noch so flüchtig, stellt Reinthaler auch immer wieder das eigene Handeln in den Mittelpunkt seiner künstlerischen Arbeit. Im Video the broken minute (2008) rekurriert er etwa auf Walter de Marias Installation The Broken Kilometer. Hat der Konzeptkünstler Ende der 1970er Jahre einen Ausstellungsraum der Dia Art Foundation in New York mit zwei Meter langen Metallstäben bespielt, die insgesamt gemessen – einen ganzen Kilometer ergaben, so transferiert Reinthaler diese Vorgehensweise vom Längen- in das Zeitmass. Die Hand des Künstlers wendet, mehr oder weniger exakt im Sekundentakt, die Seiten eines Buches. Auf jeder dieser Seiten ist das Bild einer Uhr zu sehen, deren Minutenzeiger sich durch die Bewegung des Blätterns zwar nur sehr langsam aber beharrlich verändert. „Man muss sich schon etwas Zeit nehmen, um diese Arbeit wahrzunehmen“, fordert Reinthaler von den Betrachtern des dreiminütigen Videos ein.
„Ich versuche dabei in Echtzeit die herkömmliche Konstruktion von Zukunft und Vergangenheit auszuhebeln, um in der Zeit selbst zu handeln – um den Moment zu fassen“, sagt er und verfolgt die Idee, die Gegenwart in der Gegenwart und durch die Gegenwart zu konstituieren. Dabei reibt er seine individuelle Zeitwahrnehmung an metrischen Systemen, also an jenen durch gesellschaftliche Übereinkunft beschlossenen Organisationsformen der Zeitlichkeit. Für the broken minute hat er das Margret-Bilger-Stipendium des Landes Oberösterreich erhalten. Dass er jetzt die drei Minuten jedoch auf zwölf Stunden ausdehnen muss, verkompliziert den Umgang mit der überfülle an Material erheblich. „Bei der Realisierung der Langversion stosse ich auf Probleme, mit denen ich in der Theorie nicht konfrontiert war,“ zeigt er sich offen und erzählt u.a. von seiner Digitalkamera, die nach einer Viertel Stunde, in der sie sekündlich ein Foto schiesst, wieder pausieren muss, um nicht zu überhitzen. Neben dem 12-stündigen Videoloop entsteht auch eine 144-teilige Installation aus zwölf mal zwölf Fünf-Minuten-Büchern.
Unterteilt Arnold Reinthaler zum einen die Zeit in ihre im-materiellen Bestandteile und reflektiert das Künstlersubjekt – sich selbst – im Gefüge aus Vergangenheit und Zukunft, so rekapituliert er zum anderen seine Erkenntnisse in Form kontinuierlicher Aufzeichnungen. In Langzeitprojekten wie temporal translation (2005) oder daily mapping (2008-laufend) visualisiert er seine täglichen Handlungen: Schlafen, Essen,Ausstellungsbesuche und das Treffen mit Freunden fasst er dabei in Kategorien wie Körperpflege, Face-to-face-Kommuniktion, Teletechniken oder Kulturrezeption und bringt sie in unterschiedliche Formate. Was bei temporal translation mit einer Schreibmaschine noch in konkreten textuellen Elementen als Strichcode wiedergegeben wurde, löst sich schliesslich bei daily mapping in kleinen monochromen Flächen auf. Was Reinthaler an der Klassifizierung seines eigenen Lebens interessiert, ist die Frage, ob man sich nicht irgendwann einmal nach vorne erinnern kann: „Kann ich aus den Aufzeichnungen nicht bestimmte Muster ablesen und diese Ergebnisse dann für die Gestaltung meiner Zukunft heranziehen?“, fragt er und stellt sich dabei vor, gänzlich nach einem ästhetischen Bild zu leben.
Arnold Reinthaler trägt keine Uhr. „Als Jugendlicher,“ so der Künstler nachdenklich, „wurde mir immer gesagt, dass jeder ’normale‘ Mensch eine Uhr trägt – das wollte ich nicht.“ Der Widerstand gegen die zeitlichen Zwänge, mit denen er damals konfrontiert wurde, manifestieren sich heute im Versuch, der Zeit auf ihrem Weg von der Vergangenheit in die Zukunft Herr zu werden und die Welt des Nach- und Nebeneinanders in die absolute Gleichzeitigkeit zu überführen. Ein Unterfangen, das mit Sicherheit einiges an Zeit in Anspruch nehmen wird jetzt aber wieder zurück zur Arbeit.