Zeitsysteme (Interview) / Richard Watzke, 2010 [de]

Der Künstler Arnold Reinthaler hält Zeitabläufe in Stein fest. Bevorzugte Materialien sind schwarzer Granit und schneeweißer Marmor.

Richard Watzke: Herr Reinthaler, warum wählen Sie Naturstein für die Darstellung eines so flüchtigen Mediums wie Zeit?

Arnold Reinthaler: Stein eignet sich zur bildhauerischen Bearbeitung von Zeitlichkeit deshalb sehr gut, da mit dem Medium Stein bereits ein bestimmtes kulturelles Wissen verknüpft ist. Viele denken beim Anblick einer schwarzen Granittafel an eine Grabplatte, die wiederum Assoziationen zu Fragen nach dem Ewigkeitsbegriff auslöst. Allein das Wahrnehmen des Materials genügt, und ein Großteil der Rezipienten erfährt eine metaphysische Idee von Gegenwart, eine die immer ist und sich nie bewegt. Stein suggeriert – anders als Glas oder
Metall – eine »Überzeitlichkeit«. Mit diesen Vorzeichen arbeite ich. Meine Arbeit könnte man auch »Modellierung von Zeitlichkeit« nennen. Sie funktioniert, indem ich die gebräuchliche
Assoziationskette beim Wahrnehmen von Stein breche: Flüchtige Gesten – etwa der in Stenografie schnell gekritzelte Schriftzug »19:13:25« – werden in Stein transkribiert und »zeitlos« konserviert. Umgekehrt werden auch die gravierten Sätze und Zeichen konterkariert: Stein ist Träger und Inhalt zugleich, die Pointe meiner künstlerischen Arbeit liegt gerade in diesem Wechselverhältnis und nicht in einer formalen Gestaltung. Grundsätzlich möchte ich mit der Wahl eines geradezu anachronistischen Mediums wie Stein natürlich eine bestimmte Position im zeitgenössischen Kunstbetrieb besetzen, die anders funktioniert als modischbunte Praktiken, aber sich auch von »klassischer« Steinbildhauerei deutlich absetzt.

Richard Watzke: Welche Kriterien gelten bei der Materialauswahl?

Arnold Reinthaler: Stein sollte als Stein erkennbar sein, aber erst auf den zweiten Blick. Für einen Teil meiner Gravurarbeiten wähle ich deshalb tiefschwarzen, polierten Granit, der im
zugerichteten Format von 16:9 nicht nur an »Ewigkeit« denken lässt, sondern auch an einen Flatscreen zur Übertragung von HD-Formaten erinnert. Für meine als Endlosprozesse
konzipierten Rekapitulationssysteme wie etwa »long time recording« wähle ich schneeweißen Marmor. Hier gibt es einerseits den Brückenschlag zur weißen Fläche des Papiers, andererseits denken viele Betrachter auch an Styropor, Plexiglas oder Zucker. Jüngere Arbeiten konstituieren sich deshalb aus den eben genannten Materialien wie schwarzem Granit oder weißem Marmor. Anders als jene Steinbildhauer, die einzig vom Stein ausgehen, indem sie etwa ein Werkstück »finden«, an seine Grenzen stoßen und dann das Beste daraus machen, steht am Anfang meistens das Konzept und erst dann wechselwirkend – vielleicht – das Medium Stein. Wenn ich mich aber dafür entscheide, dann spielen nicht nur das Material, sondern auch Format, Größe und Gewicht eine entscheidende Rolle. Bei einer stark medienreflexiven Arbeitsweise kann natürlich auch das Herkunftsland eine große Rolle spielen. Eine schwarze Granittafel im Format 16:9, in die »Auch Spaß muss sein« graviert ist, erfährt eine viel größere Breite, wenn der Rezipient weiß, dass es sich dabei um einen Nero Assoluto Zimbabwe handelt.

Richard Watzke: Stichwort Interaktion: Wie beeinflusst Sie das Material bei Planung
und Ausführung?

Arnold Reinthaler: Ich plane intensiv mit dem Material. Das Besondere an der Ausführung vieler meiner Arbeiten ist, dass ich sehr lange an bestimmten Werkserien arbeite. Auch hier liegt die Pointe weniger bei formalen Herausforderungen, sondern im Durchhalten des täglich sich wiederholenden Rituales. Gravieren im Sekundentakt, immer wieder und ohne Ende. Die fertige Ausführung weicht dabei einem prozessorientierten Handeln, das zum Inhalt der Arbeit wird. Vielleicht eine bewusste Gegenreaktion auf den permanenten Druck, als Künstler immer etwas Neues, möglichst Kreatives machen zu müssen.

Richard Watzke: Wie nehmen Sie die typischen Materialeigenschaften von Stein wahr?

Arnold Reinthaler: Der Widerstand des Materials zeigt sich an meiner Arbeit kaum in seiner Härte oder Sperrigkeit. Materialherausforderungen fechten Maschinen längst präziser
aus. Mich interessiert die gesellschaftliche Übereinkunft, wie das Material verwendet wird, nämlich vorwiegend zu Repräsentationszwecken. Wenn ich etwa den Satz »Liebling, wie lange
noch?« ansatzweise graviere, dann wird dadurch das Material von seiner ernsthaften, wertvollen, erhabenen Glanzfunktion entbunden. Der unfertig gravierte Satz »Liebling, wie lange
noch?« verweist auf einen Zustand des Wartens: Gravieren wird zum ephemeren Zeitvertreib, das Material entwertet und anders gelesen als gewohnt.

Richard Watzke: Was wird in Handarbeit, was mit der Maschine bearbeitet?

Arnold Reinthaler: Meine jüngeren Arbeiten sind alle handbearbeitet. Dadurch rücken das prozessorientierte Arbeiten und die künstlerische HANDlung immer stärker in den Mittelpunkt.
Ich denke immer darüber nach, ob es sich bei einer Gravur um eine Spur – händisches Gravieren – oder einen Abdruck – maschinelles Sandstrahlen – handeln sollte. Beide Techniken
können auch inhaltlich sehr interessant sein, wenn sie richtig verwendet werden. Bei dem im Entstehungsprozess stockenden Satz »Morgen ist alles gut« ist die manuelle Bearbeitung
gleichzeitig der inhaltliche Witz: Das »Morgen« verschiebt sich immer auf den nächsten Morgen und löst sich niemals ein.

Richard Watzke: Wie reagieren Betrachter auf Ihre Arbeiten?

Arnold Reinthaler: Wenn sie selbst Bildhauer sind, dann interessieren sie sich meist für Materialverfremdungen, dass zum Beispiel die herausgeschlagenen Teile bei »long time recording « aussehen wie Zuckerwürfel. Kulturwissenschafter diskutieren eher das Verhältnis von Schrift zu Schriftträger, also den Gegensatz von flüchtigen Zeichen und der Schwere des Materials. Steinmetzen ignorieren die Arbeiten häufig, da sie technisch wenig anspruchsvoll sind und formal ihren Erwartungen an Kunst oder Bildhauerei nicht entsprechen. Insgesamt werden die Steinarbeiten im Kunstbetrieb sehr wohlwollend, wenn auch vorsichtig rezipiert. Stein gilt immer noch als ein sehr sperriges, unzeitgemäßes Medium, das unreflektiert bearbeitet im Kunstkontext sehr problematisch sein kann. Gerade deshalb sind viele Betrachter immer wieder positiv überrascht, wenn sie sehen, dass es eine konzeptuelle Steinarbeit schafft, ihnen ein Lächeln zu entlocken.

Richard Watzke: Wie erleben Sie die Relation von Künstler, Material und Ergebnis?

Arnold Reinthaler: In meinem Fall sind Künstler, Material und das Ergebnis oder der Prozess stark aneinander gebunden. Das Ergebnis ist bei mir meist nur eine Momentaufnahme
einer endlos gedachten Serie. Kein fertig gestaltetes Produkt, sondern ein Resultat dieser engen Verschränkung. Die Arbeit »long time recording« könnte auch als Selbstporträt gelesen
werden: Hier wird der Stein in einem täglich stattfindenden Ritual minimal bearbeitet, indem immer die würfelartigen Stunden herausgeschlagen werden, die ich tatsächlich mit dem Produzieren von Kunst verbracht habe. Das Ergebnis ist ein laufender Prozess, der an den Jahrestafeln sichtbar wird und genau die Relation von Künstler, Material und Ergebnis visualisiert.